„Ein Ende der Diskriminierung erleben wir wohl erst im Himmel“
Situation der Roma in der Ukraine
Der Sinto Romeo Franz, Musiker und GRÜNE EUAbgeordneter will sich ein Bild von der Situation der ukrainischen Roma machen – nicht trotz, sondern wegen des Krieges.
„Dort, wo der Asphalt endet, leben die Roma“, sagt Romeo Franz, als eine Straße in Ushhorod abrupt in einen staubigen Schotterweg mündet: Radwanka, ein Stadtteil mit 3.000 Einwohnern.
Denn die Roma leiden als nicht anerkannte und strukturell benachteiligte Minderheit am meisten unter der Situation. Schätzungen nach leben bis zu 400.000 Angehörige der romanessprachigen Minderheiten, überwiegend Roma aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen, in der Ukraine. Sie sind auf allen Ebenen benachteiligt: in der Bildung, dem Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnmarkt, bei den Behörden. Roma, die schon in sowjetischer Zeit keine Dokumente besaßen, müssen riesige Hürden überwinden, um sich Ausweise zu beschaffen, ihre Lage ist besonders prekär. 30 Prozent dieser Ukrainer wohnen integriert in Städten, die meisten verleugnen jedoch ihre Identität aus Angst vor Diskriminierung. 70 Prozent leben in Siedlungen – in bürgerlichen Verhältnissen, angemessen versorgt oder in tiefster Armut.
Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung
Romeo Franz begleitet den im März berufenen Antiziganismusbeauftragten der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler. Deutschland ist das erste Land, das den jahrhundertealten Rassismus gegen Sinti und Roma mit mehr als nur Lippenbekenntnissen bekämpfen will. Anlass für seine erste internationale Reise waren diverse Zwischenfälle in Deutschland, in denen ukrainische Roma auf der Flucht einzig aufgrund ihres Äußeren schlecht behandelt wurden: willkürlich von Polizei aus dem ICE geholt, Zugang zum Raum für Geflüchtete am Bahnhof verwehrt und Ähnliches. „Unerträglich, dass die Deutsche Bahn als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn, die die Sinti und Roma in die Konzentrationslager deportierte, diese Menschen in ihren Zügen rassistisch angeht“, so Daimagüler.
Er will die Hintergründe von Binnenflucht innerhalb der Ukraine und in die EU am Ort recherchieren, um daraus Handlungen abzuleiten. Ein Novum ist, dass ermit Vertretern der deutschen Sinti und Roma reist – auf Augenhöhe. „Wir müssen mit den Menschen reden, nicht über sie“, so seine Überzeugung. Zur Delegation gehört neben Romeo Franz auch Daniel Strauß, Co-Vorsitzender der Bundesvereinigung der Sinti und Roma sowie Vorsitzender des Bundesverbands der Sinti und Roma Baden-Württemberg.
Transkarpatien
Uschhorod liegt in Transkarpatien an der Grenze zu Ungarn und der Slowakei. Hier wird Ungarisch, Ukrainisch, Russisch gesprochen – und Romanes, denn hier sind mindestens 7.000 Roma ansässig. Die meisten leben in Siedlungen wie Radwanka, keine zwei Kilometer vom Zentrum entfernt. Swetlana Adam, Leiterin der Gesellschaft der Roma in Transkarpatien, empfängt die Delegation mit Vertreter:innen von Roma NGOs.
Darunter Nikolaj Burluckij, Leiter der NGO Chachimo (Wahrheit) für Bildung und Rechtsberatung. Der in Russland geborene Rom ist im Krieg aus Charkiw geflohen und hilft in Ushhorod nun anderen Flüchtlingen. Als Pastor der Dreifaltigkeitskirche hat er besonderen Zugang zu den Menschen, von denen viele gläubig sind und Freikirchen angehören. Burluckij will einen Dialog zwischen der Minderheit und Mehrheit herstellen und den Roma zu ihren Bürgerrechten verhelfen: ein gegenseitiger Lernprozess. Doch davon ist man in der Ukraine noch weit entfernt. Er berichtet von regelmäßiger, oft tödlicher Gewalt gegen Roma. „Ein Ende der Diskriminierung erleben wir wohl erst im Himmel“, sagt er.
Vertrauen wiedergewinnen
Den Roma fehlt aufgrund der generationsübergreifenden Traumata und Diskriminierungserfahrungen oft das Vertrauen gegenüber Fremden und Institutionen. Die Anwesenheit der beiden Deutschen mit Romanes-Hintergrund macht es ihnen leichter, sich zu äußern.
Eleonora Kutschar erzählt, wie sie Kinder auf die Schule vorbereitet, um sie vor der üblichen Bildungsfalle zu schützen. Das ist Pionierarbeit, denn 85 Prozent der Roma in Ushhorod gehen auf segregierte Schulen, allein 15 Prozent schaffen es auf die besseren regulären Schulen. Die strukturellen Benachteiligungen und deren sozialen Folgen sind für diesen Missstand verantwortlich. Viele Eltern verstehen die Abläufe zur Einschulung nicht, können sich das teure Schulmaterial nicht leisten, kennen ihre Rechte nicht.
Eine informelle Absprache unter Ushhorods Regelschulen führte dazu, dass pro Schule nur maximal fünf Roma zugelassen werden. Viktor Tschowka kämpfte dafür, dass die Kinder eines Verwandten auf eine gute Schule kamen, damit sie bessere Chancen haben. Doch sie wollten nicht lange bleiben: „Vom Direktor bis zu den Schülern wurden sie gemobbt“, sagt der Journalist und Aktivist. Jetzt gehen sie auf eine andere Schule. „Das Wichtigste für die Menschen ist das Gefühl, gebraucht zu werden“, sagt er.
Verfolgte des Nationalsozialismus
Tschowka leitet Patiw, Romanes für Würde. Die NGO hat von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft eine einmalige Soforthilfe bekommen, um Roma, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt haben, mit dem Notwendigsten zu versorgen, vor allem mit Lebensmitteln und Medikamenten.
Im Gemeinschaftsraum der Gesellschaft erzählen betagte Roma der Delegation von ihrer schweren Kindheit während der Zeit des Nationalsozialismus. Kaum jemand hat sie je danach gefragt, schon gar nicht Deutsche, geschweige denn, dass sie für das erfahrene Leid entschädigt worden wären. Sie lebten mit ihren Familien wohl situiert, mit Haus und Vieh, bis die Nazis kamen und alles zerstörten. Viele erlebten Trennungen von den Eltern, verloren Angehörige in den Konzentrationslagern, erinnern sich an Vergewaltigungen und Verfolgung.
Solidarität, Müll und Elend
Im Nebenraum des Roma-Vereins sind die Teenager aufgewacht, die am Boden auf Matratzen geschlafen haben. Momentan nutzen rund 80 Binnenflüchtlinge die Gesellschaft als temporäre Notunterkunft, über 800 wurden hier seit Kriegsbeginn schon versorgt, obwohl die Mittel sehr knapp sind. Die Fluktuation sei groß, erzählt Swetlana Adam, manche seien wieder nach Hause zurückgekehrt oder weiter in die EU geflohen.
Die Roma helfen sich gegenseitig, nur so kommen sie zurecht, insbesondere in dieser Krisensituation. Ein anschließender Besuch im nahegelegenen Slum Tel’mana ist bedrückend: Müll und Elend. Die mindestens tausend Bewohnerinnen und Bewohner hier sind nicht ans Stadtwasser oder die Elektrizität angeschlossen, der Müll wird nicht abgeholt. Ihre aus Beton, Holz, Wellblech und anderen Materialien gebauten Unterkünften sowie eine Baracke, die als Kirche dient, sind trotzdem sauber. „Wie oft schon habe ich mit Privatleuten den Müll entsorgen lassen, die Verwaltung kümmert sich einfach nicht!“, stöhnt Myroslaw Gorvat, Stadtrat mit Romanes-Hintergrund. Selbst in der Hochphase von Covid ließ man die Menschen allein.
Ohne Hilfe zur Selbsthilfe unter aktiver Beteiligung der Betroffenen seien die Fortschritte zu langsam, so Gorvat. Der Stadtrat betont, dass viele Roma gegen die Russen kämpften und zeigt stolz Fotos von Soldaten. Denn es gehört zu den Vorurteilen, dass Roma eigentlich keine Bürger der Ukraine, sondern Nomaden seien. Das ist antiziganistische Rhetorik, die die deutsche Delegation auf ihrer Reise von anderen Ukrainern immer wieder zu hören bekommt.
Papiertiger ukrainische Integrationsstrategie
Die von der Ukraine verabschiedete Strategie zum Schutz und zur Integration der nationalen Minderheit der Roma ist ein Papiertiger, weitaus schwächer noch als die ebenfalls nicht erfolgreiche RomaStrategie der EU. Erst müsse der Krieg gewonnen werden, dann könne man den Roma-Plan nochmals aufgreifen, heißt es immer wieder. „In Deutschland kämpfen wir mit ähnlichen Problemen“, sagt der Co-Vorsitzende der Bundesvereinigung der Sinti und Roma, Daniel Strauß, „aber immerhin haben wir mittlerweile Instrumente und Rechtsmittel, um dagegen anzugehen“. Der Kampf um die gleichberechtigte Teilhabe der Sinti und Roma ist eine europäische Aufgabe, die die Minderheit nur in Zusammenarbeit mit der gesellschaftlichen Mehrheit bewältigen kann.
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Romeo Franz sieht Lösung des gesellschaftlichen und strukturellen Antiziganismus als Voraussetzung für die europäische Integration der Ukraine
Die Delegationsreise vom 27. bis 31. Juli 2022 in die Ukraine hat mich sehr bewegt … Es gibt nur unzureichende Informationen zur Situation von Menschen mit Romanes Hintergrund vor Ort – dies betrifft sowohl staatliche Behörden als auch eine ausreichende Studienlage …
Menschen mit Romanes Hintergrund gehören zu der am meisten marginalisierten Gruppe Europas, dieses trifft in besonderem Maße auch auf die Ukraine zu. Eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Staat und der so stark marginalisierten Gruppe findet kaum statt. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wie die Situation ist – die Lage ist erschreckend. Besonders für Menschen mit Romanes Hintergrund, die in Wäldern leben, ohne ausreichende Infrastruktur, Wasser, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Strom. Ich konnte nicht glauben, dass Menschen unter diesen Bedingungen in Europa leben – und ich habe viel auf Reisen durch Europa gesehen. Aber ich war nicht auf diese Bedingungen vorbereitet, es ist eine aktuelle Notlage, die schwer in Worte zu fassen ist.
Dass der Staat und Menschen mit Romanes Hintergrund Aufgaben auf Augenhöhe angehen, ist in der Ukraine derzeit nicht gegeben. Ein effektiver Staatsvertrag für eine gute Zusammenarbeit könnte diese Situation ändern. Die Situation für die Minderheit hat sich in Baden-Württemberg durch den Staatsvertrag komplett verändert. Wenn es Probleme gibt, die diese Minderheit tatsächlich betreffen, wird dies sofort mit dem Landesverband und dem Minderheitenrat besprochen und dann gemeinsam mit dem beteiligten Ministerium ein Lösungsvorschlag erarbeitet, der dann direkt an das Staatsministerium geht.
Ich bin bereit, den Staatsvertrag mit ukrainischen Beamten zu besprechen, wenn sie Hilfe benötigen. Dies zeigt deutlich, dass wir das Problem der ungleichen Teilhabe und des Antiziganismus nur gemeinsam mit der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit lösen können. Baden-Württemberg könnte in dieser Hinsicht eine Blaupause für ganz Europa und die Ukraine sein. Ich möchte der Ukraine helfen eines Tages Mitglied der Europäischen Union zu werden. Dafür müssen Menschenrechtsstandards eingehalten werden. Gemeinsam mit den ukrainischen Vertreter*innen können wir an einer gleichberechtigten Teilhabe von marginalisierten Gruppen arbeiten und somit den Weg in die Europäische Union ebnen.
Romeo Franz, Mitglied des Europäischen Parlaments, romeo.franz@europarl.europa.eu
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www.frsh.de - *Der Schlepper* # 105. 11/2022 (https://www.frsh.de/fileadmin/schlepper/schl_105/schlepper_105_web.pdf)
Alexandra Senfft
(Alexandra Senfft ist Journalistin und schreibt u.a. für die Wochenzeitung Freitag, info@alexandra-senfft.de, https://alexandra-senfft.de)
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